"Das ist politisch (so gewollt)", "Lass die mal Politik betreiben"

Diese Sätze begegnen mir im Berufsleben allzu häufig. Eine dieser Floskeln in den Raum geworfen und allen ist klar - es lohnt sich nicht weiter über dieses Thema zu diskutieren. In der Regel ist das Thema dann auch zusätzlich negativ besetzt. Udo Wiegärtner von der conplement AG* sieht so etwas dann bereits als Zeichen für ein so genanntes "Schrödinger Projekt". **

Eigentlich komisch. Wie kommt das?

* https://www.conplement.de/de/digitalisierung-im-mittelstand

** https://firmenfunk.com/ff051-scheitern-und-feiern/

Etymologie

Was steckt denn rein sprachlich dahinter? Mit Hilfe von Politik sollen Entscheidungen getroffen werden die dem Gemeinwohl förderlich sind. Der betreffende Raum ist dabei häufig öffentlich aber auch geschlossen (Unternehmen) oder kann gänzlich privat sein. Wenn ich nun Politik betreibe, so strebe ich aktiv Entscheidungen über offensichtlich aktuell nicht ausreichend geregelte Bereiche an. So betrachtet schwingt hier noch kein negativer Unterton mit.

Entscheidungen

Die grundlegende Aufgabe der Politik besteht also in der Entscheidungsfindung.

Wie entstehen nun diese Entscheidungen? Hier wird es deutlich komplexer.

Die einfachste Variante stellt sicher der alleinige Entscheider dar. Es muss kein Konsens gefunden werden. Wie entsteht so eine Konstellation?

  1. Wenn eine Person auf Grund Ihres Wissens und Ihrer Fertigkeiten alleinig in der Lage ist eine nutzbringende Entscheidung zu treffen. Diese Option klingt an sich recht ideal. Die getroffenen Entscheidungen stützen sich vermutlich auf einen belastbaren Kontext.
  2. Die Person wurde auf Grund der Struktur in die Position gehoben. Hier denkt man sofort an einen autokratischen Herrscher aber es heißt an sich nur, dass die Person an der richtigen Stelle/Höhe in der hierarchischen Struktur sitzt. Entscheidung werden so lange aufgeschoben und so lange nach oben durchgereicht bis eine entsprechende Stufe der Wichtigkeit erreicht ist. Manchmal gibt es klare Vorgaben wie z.B. Budgetverantwortungen, die die entsprechende "Höhe" anzeigen. Komplexe Sachverhalte zeigen häufig schon das Problem dieses Vorgehens auf. Es ist nicht mehr auszumachen wer eigentlich alles zu Rate gezogen werden muss, um eine Entscheidung zu treffen. Versuchen Sie in einer solchen Struktur einen bisher nicht verwendeten Bürostuhl-Typ zu beschaffen.

Trotz alledem - am Ende steht eine (von wenigen getroffene) Entscheidung.

Komplexer ist die folgende Option (ich habe bewusst ein paar Varianten ausgelassen)

  1. eine Gruppe von Menschen unterschiedlichster Wissensgebiete erarbeitet eine gemeinsame Entscheidung. Ouuh das ist schwierig. Die Mitglieder der Gruppe müssen kommunizieren, Aufklärungsarbeit leisten, ihre Standpunkte erläutern und damit Transparenz dafür erzeugen usw... Das Ganze ist recht zeitaufwändig. Die Mitglieder der Gruppen sind zeitweilig oder gänzlich nur an diese Arbeit gebunden. Es kann sogar sein, dass die Kosten den Nutzen der Entscheidung bei weiten übersteigen.

... Und das alles für eine Entscheidung?

Nungut wo liegen den jeweils die Vorteile und Nachteile

Option 1 Option 2 Option 3
Schnelligkeit d. Entscheidungsfindung sehr schnell mittel langsam
sinnhaftige Entscheidung hoch mittel-niedrig mittel
mgl. Fehler bei komplexen Sachverhalten mittel-hoch mittel niedrig-mittel
je Problem ein Spezialist ja eher ja nein
Nachvollziehbar d. Entscheidungsfindung mittel niedrig mittel-hoch

Option 1 scheidet eigentlich komplett aus. Zwar fallen hier durchaus gute Entscheidungen aus dem Prozess heraus, es muss aber für jedes anstehende Problem ein passender Spezialist gefunden werden. Das ist durchaus ambitioniert. Ein Ansatz in der Realpolitik ist die Bildung von Entscheidungsgremien. Die richtige Tiefe der Spezialisierung ist aber schwer auszumachen. Das größte Problem ist aber die Akzeptanz der Entscheidungsempfänger. Sie muss blind auf die Spezialisten vertrauen, da es keine direkte Rückkopplung gibt.

Bleiben also 2 Optionen. Unternehmen finden sich zu 99% in der Option 2 wieder. Es gibt klare hierarchische Strukturen, die sich häufig wie beschrieben verhalten. Gerade größere und damit schwerwiegendere Entscheidungen werden häufig nur von gewissen Positionen getroffen. Die Nachvollziehbarkeit hält sich in Grenzen. Dieser Effekt verstärkt sich immens, wenn Berater oder Experten angezweifelt werden. Gängig ist die Erarbeitung von Entscheidungsvorlagen durch ein Team. Selbst wenn diese durch einen Entscheider völlig zurecht und korrekt abgeändert wird, die Akzeptanz ist dahin. Der Entscheidungsweg ist unterbrochen.

Nun wurde gestern gerade die Zusammensetzung des europäischen Parlaments neu gewählt. Es zeigen sich immense Verschiebungen der Mehrheiten auf. Wo ist also nun das Problem der bisherigen öffentlichen Politik? Meiner Meinung in Option 2 und dort vor allem in der letzten Tabellenzeile. Die Auswirkungen von Entscheidungen werden transparenter auf Grund der Verfügbarkeit von Kommunikationsmitteln. Nie war es einfacher informatorischen Inhalt zu produzieren. Gleichzeitig sind die Entscheidungswege nie intransparenter gewesen als jetzt. Natürlich ist eine Konsensfindung nicht einfach aber eine starke Verwässerung der ursprünglichen Ideen wirft Fragen auf, die nicht beantwortet werden können. Die (fauligen) Früchte seiner Arbeit erntet man erst zur nächsten Wahl.

Warum sehe ich unsere demokratischen Systeme nicht in Option 3? Die Wahl von Parteien, der Zusammenschluss zu Fraktionen und die klare Führung eines Parlamentes durch eine Regierung stellt für mich ganz klar eine Hierarchie dar. Opositionelle Parteien können sich dadurch hauptsächlich in Abstimmungen aber nicht in die Gestaltung von Gesetzen einbringen. Ggf. gibt es eine Vermischung mit Option 1 durch die benannten Expertengremien.

Fazit

  • Der Weg zur Entscheidung ist mindestens genauso wichtig wie die Entscheidung selbst.
  • Eine Entscheidungsvorlage sollte nach Möglichkeit nicht außerhalb der Gruppe abgeändert werden. (die Gruppe trägt die Entscheidung sonst nicht mehr)

Die Betrachtungsweisen sind allesamt natürlich stark vereinfacht und die Wirklichkeit ist komplexer. Allerdings zeichnen sich in vielen Strukturen ähnliche Problem ab, wenn Entscheidungen nicht mehr durch Mehrheiten getragen werden. Eine Gesellschaft kann nur in Grenzen durch Gesetze erzogen (oder betrogen) werden.

Unterwegs bin ich auch Unternehmen gestoßen, dass sich gänzlich zur Demokratie bekennt: https://praemandatum.de/

Nach dann fröhliches: "Die da haben Politik gemacht !" oder auch am "Anfang war (bereits) die Entscheidung".

Nachtrag

Ein weiterer negativ behafteter Punkt könnten die langen Iterationszyklen (Legislaturperiode) unserer Basisdemokratie sein. Mai Thi Nguyen-Kim kommentierte das beschleunigte Artensterben in einem Video mit "die Evolution kommt nicht mehr nach". Eventuell kommen die Politiker mit der Themenvielfalt und -volalität auch nicht mehr nach aber das muss ich genauer überdenken. https://www.youtube.com/watch?v=tNZXy6hfvhM